REZENSION

BRASS BIRMINGHAM

  • Genre: Strategiespiel
  • Jahr: 2020 (deutsche Ausgabe, Original: 2018)
  • Verlag: Roxley, Giant Roc
  • Autoren: Gavan Brown, Matt Tolman, Martin Wallace
  • Grafik: Lina Cossette, David Forest, Damien Mammoliti
  • Spieler: 2 bis 4
  • Alter: ab 14 Jahren
  • Dauer: ca. 60 bis 120 Min.
  • Schwierigkeitsgrad: mittel
  • Taktiklevel: 8/10

Industrie-Romantik

Wir befinden uns in England zur Zeit der Industriellen Revolution. Unsere Aufgabe ist es, die Städte in zwei Epochen zunächst über Kanäle, später auch über Eisenbahnstrecken zu verbinden und mit Industrie-Gebäuden zu bestücken, um Handel zu treiben. 

REGELN

Legt den Spielplan mit der von euch bevorzugten Seite (Tag oder Nacht) in die Mitte. Bestückt die Marktfelder mit Kohle und Eisen, legt zufällige gezogene Händler-Plättchen auf die der Spielerzahl entsprechenden Handels-Orte. Legt die Joker-Karten bereit und mischt dann die restlichen Karten zu einem verdeckten Stapel. Teilt jedem Spieler 8 Karten aus, legt eine neunte Karte verdeckt vor jeden Spieler. 

Jeder Spieler erhält ein eigenes Tableau. Darauf werden sämtliche Gebäudeplättchen nach Vorgabe platziert. Insgesamt gibt es 5 verschiedene Gebäudetypen, jeweils in ihren Werten gestaffelt und teilweise auch mehrfach pro Stufe verfügbar. Außerdem bekommt jeder Spieler die Verbindungsplättchen (Vorderseite: Schiff, Rückseite: Eisenbahn) seiner Farbe.

Gespielt wird reihum. Wer an der Reihe ist, führt 2 Aktionen aus, im allerersten Spielzug abweichend nur eine. Um eine Aktion auszuführen zu dürfen, muss der Spieler eine seiner Handkarten abwerfen. Für die meisten Aktionen ist es unwichtig, welche Karte gespielt wird. Einzig die Aktion „Bauen“ erfordert passende Karten. Am Ende des Spielzuges zieht der Spieler wieder entsprechend viele Karten nach, und der nächste Spieler ist an der Reihe. Das geht so lange weiter, bis jeder Spieler keine Karten mehr nachziehen kann und alle Handkarten ausgespielt sind. Dann endet Epoche 1. Anschließend wird eine zweite Epoche gespielt. 

Zum besseren Verständnis der Aktionen, sollten folgende Spielkonzepte verstanden werden:

  • Eigenes Netzwerk: Das sind Städte, in denen ein Spieler ein Gebäude errichtet hat bzw. Städte, die über eigene Verbindungen (Schiff oder Eisenbahn) angeschlossen sind.
  • Verbundene Städte: Das sind Städte, die über Schiffe oder Eisenbahnen miteinander verbunden sind, egal, von welchem Spieler diese Verbindung errichtet wurde.


Um bestimmte Aktionen machen zu können, müssen Ressourcen verbraucht werden. 

  • Kohle verbrauche ich über Verbindungen angeschlossene Kohlebergwerke (egal, von welchem Besitzer) oder, über die Kohlenhändler, dann jedoch vom Markt gegen Bezahlung; je mehr Kohle vom Markt gekauft wird, umso teurer wird sie.
  • Eisen verbrauche ich von Eisenhütten auf dem Spielplan (egal, von welchem Besitzer) oder vom Markt. Da Eisen nur in geringen Mengen benötigt wird, braucht es dafür keine Anschlüsse an Händler oder Eisenhütten; das Eisen kommt quasi „angeflogen“.
  • Bier verbrauche ich von einer eigenen Brauerei (diese muss nicht angeschlossen sein) oder von einer angeschlossenen Brauerei eines anderen Spielers. Auch liefern einige Händler Bier.


Schauen wir uns nun die möglichen Aktionen an:

  • Ich kann Städte verbinden, indem ich in Epoche 1 ein Schiffsplättchen meiner Farbe auf einen freien Kanal bzw. in Epoche 2 ein Eisenbahnplättchen meiner Farbe auf eine freie Schiene lege. Diese Verbindung kann dann von allen Spielern genutzt werden, um Ressourcen zu verbrauchen bzw. Händler zu benutzen. Das Errichten der Verbindungen geschieht stets im eigenen Netzwerk und muss, wie auf dem Spielplan angegeben, mit Geld (jeder Spieler startet mit 17 Pfund) bezahlt werden, Eisenbahnen zusätzlich mit Kohle (siehe "Kohle verbrauchen" oben). 


  • Bauen: Ich darf ein Gebäude der niedrigsten noch verfügbaren Stufe seiner Art von meinem Tableau errichten. Dazu zahle ich die neben dem Gebäude angegebenen Kosten und verbrauche z.T. Ressourcen. Einige Gebäude dürfen nur in Epoche 1, andere nur in Epoche 2 errichtet werden. Um ein Gebäude zu bauen, muss ich ein zur Gebäudeart passendes Feld auf dem Spielplan belegen. Die Stadt muss Teil meines Netzwerkes sein, wenn ich für diese Aktion eine passende Industriekarte (mit dem entsprechenden Symbol) ausspiele. Ich kann auch ein neues Netzwerk beginnen, indem ich eine Städtekarte ausspiele. Dann baue ich das Gebäude in der angegebenen Stadt, sofern dort ein zum Gebäude passendes Feld vorhanden ist. Kohlebergwerke werden mit Kohle-Würfeln belegt (sollten der Markt Lücken aufweisen, wird die Kohle über einen angeschlossenen Kohlehändler direkt dorthin verkauft), Eisenhütten mit Eisen (auch hier gilt der Verkauf zum Markt, wenn dort freie Felder zu finden sind), Brauereien mit Bierfässern. Sollte sämtliche Kohle, sämtliches Eisen bzw. das Bier auf einem Gebäude komplett verbraucht worden sein, wird das Gebäude umgedreht und liefert dem Besitzer zunächst Schritte auf der Einkommensleiste, am Epochenende auch Punkte. Eigene Gebäude darf ich mit höherwertigen Gebäuden ihrer Art überbauen, fremde Kohlenbergwerke und Eisenhütten ebenfalls, allerdings nur, wenn kein Rohstoff der entsprechenden Art mehr verfügbar ist.


  • Handel treiben: Über Verbindungen zu entsprechenden Händlern, können gebaute Töpfereien, Wollmanufakturen und Fabriken ebenfalls auf die Rückseite gedreht werden. Sollte dafür ein Bierverbrauch nötig sein, kann dieser auch direkt vom Händler erfolgen, sofern dort noch ein Fass vorhanden ist; dann gibt es dafür noch einen kleinen Bonus. Über eine einzelne Handelsaktion können direkt mehrere eigene Gebäude gedreht werden, sofern sie alle über entsprechende Verbindungen verfügen und genügend Bier zum Verbrauch vorhanden ist.


  • Entwickeln: Über den Verbrauch von 1 bzw. 2 Eisen können 1 bzw. 2 Gebäude vom eigenen Tableau entfernt werden, ohne sie auf dem Spielplan zu errichten. Das kann z.B. sinnvoll sein, um schneller an höherwertige Gebäude zu gelangen.


  • Um jeweils einen Industrie- und Ortsjoker auf die Hand nehmen zu dürfen, muss ich zwei Handkarten abwerfen (zusätzlich zur der für die Aktion zu spielenden Karte).


  • Kredit aufnehmen: Gegen den Verlust von 3 Einkommensstufen auf der Einkommensleiste kann ich mir 30 Pfund Bargeld besorgen. 


  • Theoretisch kann ich auch passen, muss dann aber trotzdem eine Karte spielen.


Jeder Spieler macht also pro Zug zwei Aktionen (außer im allerersten Spielzug). Bezahltes Geld wird dabei immer auf dem eigenen Spielermarker gesammelt. Hat jeder Spieler seine Aktionen gemacht, wird die Spielerreihenfolge entsprechend des bezahlten Geldes angepasst. Wer am wenigsten Geld investiert hat, wird neuer Startspieler, die anderen Spieler folgen entsprechend aufsteigend nach ihren gezahlten Geldbeträgen. Jeder Spieler erhält nun Einkommen entsprechend seines Einkommensmarkers. Sollte sich dieser im negativen Bereich befinden, muss Geld bezahlt werden!

Am Ende von Epoche 1 (sobald alle Karten gespielt wurden), findet eine erste Wertung statt. Jeder Spieler erhält für jede eigene Kanalverbindung so viele Punkte, wie es Verbindungssymbole in den angrenzenden Städten gibt. Außerdem gibt es für jedes umgedrehte eigene Gebäude die aufgedruckten Punkte. Dann werden alle Verbindungen sowie Stufe 1-Gebäude vom Spielplan entfernt. Die Karten werden neu gemischt. Nun folgt Epoche 2 (Eisenbahnen) nach dem selben Prinzip. Im Gegensatz zu Epoche 1 darf jeder Spieler nun auch mehrere Gebäude in jeder Stadt errichten. Nach Epoche 2 gibt es eine erneute Wertung für Verbindungen und Gebäude. Wer nun die meisten Punkte sammeln konnte, gewinnt. 

Das Spiel kann auch in einer verkürzten Variante (über nur eine Epoche) gespielt werden. Dann gibt es noch kleine Abweichungen in der Wertung.

GALERIE

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CHECKPOINT

PRO

  • toll verzahntes Spiel
  • viele strategische Optionen
  • starke Tischpräsenz
  • trotz hohem Anspruch vergleichsweise wenige Regeln, die jedoch erst einmal verstanden werden müssen


CONTRA

  • thematische Brüche
  • in Erstpartien anfällig für unabsichtliche Spielfehler

MEINUNG

Brass galt schon seit seinem Ersterscheinen im Jahr 2007 als Meisterwerk von Martin Wallace. Mittlerweile hört das Spiel auf den Namen Brass Lancashire. Das hier gezeigte, im Jahr 2018 erstmals erschienene Brass Birmingham ist also ein Sequel - mit bekannten und neuen Elementen.

In der aktuellen Neugestaltung von Roxley erzeugt Brass eine sehr schöne Tischpräsenz, wenn man, wie ich, in der zeitlichen Epoche der Industrialisierung, gar eine gewisse Romantik wiederfindet. So erinnert die Industriewelt in ihren grau-braun-Tönen sofort an rauchende Schornsteine der Fabriken, an alte Dampflokomotiven - ja, man spürt diese Zeit des Aufbruchs in eine neue Zeit. Die Kickstarter-Edition des Spiels war noch opulenter ausgestattet, keine Frage - Geeks schwören besonders auf die damals erhältlichen Poker-Chips statt der Pappmünzen. Aber auch ohne großes Bling-Bling sieht die Retail-Version, die seit 2020 dank der Spielerschmiede auch auf deutsch erhältlich ist, prächtig aus. Ich bevorzuge übrigens die Nacht-Seite des Spielplans. Die wirkt auf mich noch imposanter und zudem auch übersichtlicher.

Brass Birmingham ist ein Wirtschaftsspiel. Hier dreht sich alles um die Kohle, und das im doppelten Sinn. Geld ist knapp, das Erwirtschaften von dauerhaftem Einkommen essenziell, wobei man, wie es einem in der Spielanleitung schon geraten wird, keine Angst vor Krediten haben sollte! Geld ist am Ende des Spiels nichts wert, es ist nur Mittel zum Zweck - es sei denn, ihr verkürzt das Spiel auf eine Epoche, aber davon würde ich auf Dauer abraten. Die Kurzversion sollte höchstens zum Kennenlernen der Mechanismen genutzt werden.

Eine Partie Brass Birmingham kann man zu dritt in den angegebenen 2 Stunden schaffen, zu viert sind es dann doch eher 2,5 bis 3 Stunden, wobei das Spiel eine Lernkurve besitzt. Neulinge werden sich meist noch nicht mit Experten messen können. In den Erstpartien wirkt man noch etwas verloren. Dabei sind die Regeln für sich gar nicht mal wirklich kompliziert: Karte spielen, Aktion durchführen. Und die Aktionen sind für sich ebenfalls recht schnell erklärt und verstanden, wenn man erst einmal die einzelnen Spielkonzepte dahinter verinnerlicht hat. So ist es dann auch gar nicht mal erstaunlich, dass die Anleitung auf wenigen Seiten alles Notwendige ausreichend erklärt.

Nun kann ich kritisch anführen, dass die Konzepte nicht auf den ersten Blick intuitiv sind, da die Ressourcen jeweils eigene Regeln besitzen, die bestimmen, wie ich sie verwenden / verbrauchen darf. Dass Eisen, im Gegensatz zur Kohle, auch ohne Verbindung angeflogen kommt, dass ich Verbindungen von Mitspielern kostenlos nutzen und mich an ihrem Kohle-Vorrat bedienen kann, ohne etwas zu bezahlen - das macht inhaltlich nicht immer Sinn. Dennoch sind es genau diese Konzepte, die das Spiel so schön verzahnen, ja auch Interaktionen entstehen lassen. Möchte ich überhaupt Kohle vom Kohlewerk meiner Konkurrenz verbrauchen? Ja, die ist kostenlos, aber leere ich den Vorrat eines Plättchens, verschaffe ich meinem Mitspieler Einkommen und Punkte. Andererseits kann ich diese Regel umgekehrt auch ausnutzen, indem ich bewusst Energiequellen und Brauereien an vorhandene Netzwerke anschließe. Und keinesfalls zu verachten sind auch die Kanal- und Eisenbahnverbindungen. Wenn ich die an strategisch gute Städte anschließe, sind mir viele Punkte sicher.

2 Epochen mit je 8 Spielrunden und je 2 Aktionen - das klingt erst einmal viel. Schnell merkt man: Man kann nicht auf allen Hochzeiten gleichzeitig tanzen. Gern würde ich viele verschiedene teure Gebäude errichten, aber die muss ich mir erst einmal frei spielen und dafür fehlt die Zeit. Nicht selten kommt es vor, dass mir zum Bau dann genau 1 mickriges Pfund an Münzen fehlt. Auch hier zeigt sich: Profis, die das Spiel schon öfter gespielt haben, kennen gewisse Abläufe und wissen, wann man was am besten baut. Dennoch ist Varianz im Spiel. Die wird durch die zufälligen Händlerplättchen und die Karten erzeugt. So bringen mir meine besten Pläne nichts, wenn ich einfach keine passenden Handkarten ziehe. Ja, das ist dann auch ein gewisser Glücksfaktor im Spiel. Ich habe Partien erlebt, in denen ich schnellen Zugang zum Joker-Händler hatte und zudem stets passende Karten, um mein dort angeschlossenes Netzwerk zu erweitern. Umgekehrt hatte ich auch Partien, in denen ich stets unglückliche Städtekarten zog, die mir einen nicht unerheblichen Mehraufwand einbrachten, weil sich die Konkurrenz auf der anderen Spielplanseite zusammenrottete. Keine Angst, das lässt sich mit guter Planung schon auch ausgleichen. Unsere Partien waren stets eng. Dennoch muss man bei diesem Spiel immer schon im Voraus planen, sodass nach gut 3 Stunden nicht nur der Schornstein der Fabrik, sondern auch der Kopf raucht.

Die Verzahnung des Spiels und das vergleichsweise simple Ziel (Punkte durch Verbindungen und Gebäude) erzeugen dabei ein sehr harmonisches Spielerlebnis - regeltechnisch nicht überfordernd, spielerisch dennoch überaus herausfordernd. Verzeiht dem Spiel, wenn ihr in euren Erstpartien unabsichtliche Spielfehler macht. Das kam bei uns auch bei erfahrenen Spielern vor. Vieles muss taktisch bedacht werden und schnell übersieht man dann mal eine Kleinigkeit (nur ein Gebäude pro Spieler und Stadt in Runde 1 oder z.B. auch die Tatsache, dass eine bestimmte Stadt gar nichts ans Kanalnetz angeschlossen werden kann, da nur Eisenbahnschienen zu ihr führen ....). Das sind so Momente, die zeigen, dass Brass Birmingham öfter gespielt werden will. Und wer einmal Gefallen an dem Spiel gefunden hat, der wird sich zu weiteren Partien nicht lange überreden lassen müssen. Mit jeder Folgepartie wird das Spiel besser, da man sich dann auf die eigene Strategie konzentrieren kann.

Im Netz wird Brass oft als das beste Strategiespiel aller Zeiten betitelt. Können sich die vielen, vielen Fans irren? Nein, das können sie nicht, wenngleich ich das Spiel nicht auf Platz 1 meiner persönlichen All-Time-Favoritenliste sehe. Dennoch kann auch ich mich nicht dem (Industrie-)Charme, den das Spiel ausstrahlt, entziehen! Top - je nach Spielverlauf vergebe ich sehr gute 8 bis 9 Kultpunkte!

KULTFAKTOR: 8-9/10

Spielidee: 8/10
Ausstattung: 8/10
Spielablauf: 9/10

TEAM-TREND

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Die Kultfaktor-Wertungen weiterer Spielkultisten:

Matthias: 10/10
Torsten: 10/10
Andreas: 9/10
Klaus: 9/10
Beate: 8/10
Dän: 8/10
Lutz: 8/10
Ulf: 8/10

EUER REZENSENT

INGO

Vielspieler, Skifahrer, Italien-Fan, Medienheini

Eine Rezension vom 20.09.2021

Dieser Spieletest wurde unterstützt durch ein Rezensionsexemplar.

Bildnachweis:
Coverfoto: Roxley / Giant Roc
Weitere Fotos: Spielkultisten